von April Nierose
Klappentext zu Unerreichbar – Abgrund: Teil 1 der Unerreichbar-Dilogie
„Eine Sache gibt es, die das Schlimmste im Menschen hervorholt – und das ist nicht Angst oder Neid, nicht einmal Hass. Es ist Macht. Es ist die Gewissheit, dass das Gegenüber nichts weiter tun kann, als etwas zu ertragen.“
So unterschiedlich die Zwillingsschwestern Clara und Camilla sind, so verschieden verlaufen auch ihre Leben.
Während das von Camilla augenscheinlich perfekt wirkt, ist Clara bisher an jeder Front gescheitert.
Als Clara nach der Beerdigung ihrer Mutter von einem mysteriösen Fremden angesprochen wird, der sie auf der Stelle begeistert, will er ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Sie beschließt, alles daran zu setzen, ihn wiederzusehen. Währenddessen erleidet Camillas Leben einen massiven Einbruch, doch sie ahnt nicht, dass das erst der Anfang ist, denn eine vertraute Person in ihrer Umgebung brennt bereits lange darauf, ihr alles zu nehmen.
Tod, Betrug, Entführung – und das Spiel beginnt!
Der erste Band der „Unerreichbar“-Dilogie von „Verfall“-Autorin April Nierose. Unheilvoll, brutal, packend!
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Ausgaben: Taschenbuch, E-Book
Seiten: 564
ISBN: 9783985950409
ASIN: B09LSBWY59
Leseprobe Für gewöhnlich werden eineiige Zwillinge miteinander verwechselt. Schließlich sind sie genetisch identisch. Eine befruchtete Eizelle teilt sich, so wie alle anderen Zellen es auch tun. Der Prozess, der alles Leben auf dieser Welt ermöglicht. Es entstehen zwei identische Zellen, zwei Leben. Zwei Individuen, biologisch betrachtet zwei Wesen mit identischen Voraussetzungen. So besagt es die Theorie. Ich weiß nicht, wann und wie es geschah, als meine Zwillingsschwester und ich begannen, uns so stark zu unterscheiden, bis wir beinahe den Gegensatz zur jeweils anderen bildeten. Waren Zufälle dafür verantwortlich oder waren wir genetisch doch verschiedener als man annehmen würde? Schließlich waren wir unter denselben Bedingungen aufgewachsen. Die gleichen Kleider, die gleichen Spielzeuge, die gleichen Schulen. Für unsere Mutter waren wir allerdings sehr früh alles andere als gleich. Meine Schwester Camilla war stets Mutters kleines, liebes Mädchen. Sie lebte bereits im Sandkasten völlig zwanglos die Ideale unserer Mutter, während es mir nicht einmal mit Mühe gelang. Vielleicht wurde ich aus Trotz nicht, wie von unserer Mutter gewünscht, vielleicht aus wahrer Gegensätzlichkeit zu Camilla, vielleicht, weil ich mich als ein eigenständiges Individuum abgrenzen, keine Kopie sein wollte. Wollen wir denn nicht alle etwas Besonderes sein? Camilla schien es nie gewollt zu haben. Sie ging stets den direkten, gepflasterten Weg, sei es nur der Schulweg oder der klassische Weg der Lebensgestaltung. Ich tat es hingegen nicht. Bereits auf dem Weg zur Schule gingen wir getrennte Wege im wörtlichen Sinne. Camilla beschritt den Weg, den unsere Mutter uns zu beschreiten angewiesen hatte, den Weg, auf dem man uns gut sah, auf dem wir sicherer waren. Ich aber wählte den Umweg, den Weg zwischen den Gassen und Nebenstraßen hindurch, auch wenn er wesentlich länger als der angewiesene Schulweg war. Ich wollte erkunden, das Leben spüren, Abenteuer erleben, in jedem noch so kleinen Augenblick Staunen empfinden, nicht wie Camilla mit Scheuklappen der strengen Vorschriften durch das Leben gehen. Bei meinen ungeplanten Ausflügen verletzte ich mich, meine Kleider wurden dreckig, aber bedeutete nicht genau das, zu leben? Zu fallen, aufzustehen, den Dreck abzuklopfen und weiterzugehen, ob blutend oder nicht? Camilla hätte dem widersprochen, bereits als Kind. Vermutlich war das die Zeit, in der ich zum bösen Zwilling in den Augen unserer Mutter wurde, noch bevor ich Gelegenheit bekam, die Tragweite von Entscheidungen zu begreifen. Und dann? – Dann war ich bereits in der Rolle der schwierigen Tochter verhaftet, ohne jemals den Schmetterlingsmoment ausgemacht haben zu können, der das alles in Gang gesetzt hat. Eine Kleinigkeit, ja vielleicht ein anderer Zufall als der, der geschehen war, und alles wäre anders gekommen. Vielleicht wäre ich dann zur guten Schwester geworden und unsere Mutter hätte nicht sterben müssen. Aber nicht nur das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir hatte unter dieser Rollenverteilung gelitten, sondern auch das Verhältnis zwischen uns Schwestern. Wir fühlten uns voneinander verraten. Camilla fühlte sich von mir verraten, weil ich immer das tat, wonach mir der Sinn stand und ich mich von Camilla, weil sie mich immer verpetzte. Loyalität zwischen uns gab es nie, nicht solange ich denken kann. Ich habe Camilla stets im Stich gelassen, ihr den Rücken zugekehrt, während sie mir immer und immer wieder in den Rücken fiel. Das war das, worauf ich mich verlassen konnte: Camilla würde immer das tun, was man von ihr erwartete und mich dabei niemals in Schutz nehmen. Später begann ich, meine Schwester für beschränkt zu halten, für langweilig, für spießig und vermutlich trifft das auch auf sie zu, aber es kam, wie es kommen musste: Mein Weg forderte seinen Tribut. Camillas Weg nicht. Während sie einen hervorragenden Schul- und Universitätsabschluss absolvierte, glücklich heiratete, sich selbstständig machte, Mutter eines bezaubernden Sohnes wurde, gab es für mich keinen Erfolg. An keiner Front. Meine Ex-Freunde benutzten und entsorgten mich anschließend wie ein dreckiges Taschentuch, während mich das erst recht dazu verleitete, krampfhaft um ihre Aufmerksamkeit zu kämpfen, die Aufmerksamkeit und Liebe, die ich von meiner Mutter nie bekommen hatte. Auch als es um Schule, Universität oder Beruf ging – ich war schon froh, wenn ich nur durchschnittliche Leistungen erbrachte. Mir fehlte eben das, worüber Camilla im Übermaß zu verfügen schien: Fleiß. Vielleicht war ich arrogant genug zu glauben, dass das, was Camilla erreichen konnte, auch für mich greifbar wäre, wenn ich mich zusammenreißen und dafür arbeiten würde, dass ich mich bloß aus Abenteuerlust nicht hätte bemühen wollen, dass meine Prioritäten anders ausgesehen hätten. Schließlich waren wir genetisch gleich. Vielleicht hatte ich sogar Recht damit. Der springende Punkt ist bloß, dass ich es nie darauf ankommen ließ, das herauszufinden. Ich wollte leben, alles vom Leben, aber schließlich hat mir mein Lebensstil nichts weiter geboten als Enttäuschungen. Ich versuchte, nicht in Selbstmitleid zu versinken, Verantwortung für meine Entscheidungen, die ich stets mit klarem Verstand getroffen hatte, zu übernehmen, doch wenn ich die Zeit hätte zurückdrehen können, im Wissen, wie das alles enden würde, dann musste ich mir eingestehen, dass ich wahrscheinlich nichts anders gemacht hätte. Und auch heute glaube ich noch, das Ruder herumreißen, alles ändern zu können, aber ich tue es nicht. So quäle ich mich durch einen unbefriedigenden Job als Kellnerin, nachdem ich zwei Studiengänge abgebrochen habe und rede mir ein, dass ich einen davon irgendwann wieder aufnehmen könnte. Im tiefsten Inneren muss ein Teil von mir aber höhnisch auflachen, denn wenn ich ehrlich zu mir bin, dann habe ich mich immer schon auf mein üppiges Erbe verlassen, das mir heute nicht nur aus der Schuldenfalle helfen, sondern auch ein recht passables, finanziell sorgenfreies Leben ermöglichen wird. Ich habe mich nicht verrechnet, denn heute ist der Tag, an dem meine Mutter unter die Erde kommt und während Camilla versucht, ihr Schluchzen zu unterdrücken, während ihr Tränen aus den Augen fließen wie aus einer Duschbrause, unterdrücke ich ein schiefes Lächeln, denn ich bin diejenige, die niemanden verloren hat und deren neues Leben gerade erst beginnt. Ich habe nämlich sehr wohl ein Ziel erreicht und dafür nahm ich diesmal weder einen Umweg noch den direkten Weg, sondern eine Abkürzung. Kapitel 2: Camilla, 2019 Es fühlt sich so unwirklich an. Wir alle wachsen in dem Wissen auf, dass Menschen sterben, dass wir wahrscheinlich unsere Eltern überleben werden, überleben sollten, dass dies der natürliche Lauf des Lebens ist, aber es fühlt sich nicht richtig an. Wenn man einen geliebten Menschen verliert, dann versagt jede Rationalität, jede Vernunft, jede Logik. Meine Mutter und ich standen uns nicht einfach nur nahe. Wir waren Freundinnen, Vertraute, alles das, was man sich vermutlich von einer Mutter-Tochter-Beziehung wünscht. Ich habe meine Mutter mein Leben lang bewundert. Sie war mein Vorbild. Jedes Problem rang sie mit Lösungen nieder, als sei sie unbezwingbar. Sie schaffte es, Karriere zu machen sowie meine Schwester und mich großzuziehen. Auch die Rolle der alleinerziehenden Mutter meisterte sie nach dem Tod unseres Vaters perfekt, und das ganz allein, ohne fremde Unterstützung. Trotz dieser massiven Belastung fand sie immer Zeit für uns, wenn wir sie brauchten. Dass Clara häufig in Schwierigkeiten geriet, brachte unsere Mutter nie aus der Ruhe. Sie stützte sie wie eine tragende Wand, ganz gleich, ob Clara an falsche Männer geriet oder Schulden machte, ständig aufs Neue. Meine Schwester und ich waren uns nicht immer einig, eigentlich fast nie. Wir könnten kaum verschiedener sein, aber eine Sache hatten wir immer gemeinsam: die Liebe zu unserer Mutter, auch wenn Clara das niemals offen eingestehen würde. Clara ist ein verschlossener Mensch, der nicht über seine Gefühle redet. Dennoch weiß ich, was sie fühlt, wenn ich in ihr Gesicht sehe und es erfüllt mich mit Schmerz. Immer und immer wieder, wenn ich denke, dass die Trauer nicht tiefer in meine Eingeweide dringen könnte. Ich sehe, wie Clara um Fassung bemüht versucht, auch nicht einen ihrer Gesichtsmuskeln zu rühren, wie sie kämpft, um dieses Mal stark zu sein, während es mir nicht gelingt. Im tiefsten Inneren weiß ich, dass Clara die Stärkere von uns beiden ist, auch wenn sie ihre Stärke stets für Widerstand einsetzte, statt für Konstruktivität. Sie hat Mut, Kraft und Energie. Etwas, das sie von unserer Mutter geerbt hat, und ich hoffe, dass sie es weiß. Dass sie eines Tages lernen wird, ihr Potenzial zu nutzen. Das wünsche ich mir für sie vom ganzen Herzen. Hätte ich doch nur Claras Fassung und ihre Selbstbeherrschung, um in der Lage zu sein, vor all diesen Menschen, die sich versammelt haben, zumindest nicht komplett jämmerlich dazustehen. Ich habe mich darauf vorbereitet, auf diesen Moment, diese Rede, wie ich mich stets auf alles vorbereite, aber jetzt stehe ich hier oben und bekomme kein Wort aus mir heraus. Mir wäre auch ohne einstudierte Rede klar, was ich fühle, was ich sagen will, aber ich kann es nicht in Worte fassen und wenn ich doch kurz das Gefühl habe, dass es mir gelingen könnte, nur ein Wort aus mir herauszubringen, erstickt es in meiner Kehle. Gewiss ist allen Anwesenden klar, was meine Mutter mir bedeutet hat, aber ich will ihr diese Ehre erweisen, ein letztes Mal will ich sie stolz machen, obwohl ich weiß, dass sie immer stolz auf uns gewesen ist. Kapitel 15: Jessica, 2019 Wie lange ist es nur her, dass ich in meinem frustrierenden Leben sicheren Schrittes unterwegs war? Habe ich mich überhaupt jemals wirklich selbstsicher gefühlt? Doch heute ist alles anders, es ist der Wendepunkt meines Lebens. Manchmal habe ich mich für das, was ich tat und für das, was ich nicht bin, aber gerne wäre, unheimlich geschämt, doch heute fiel all das von mir ab wie ein altes, abgelegtes Kleidungsstück. Aus Camillas Sicht war mein ganzes Leben wohl ein konstanter Tiefpunkt, ein Projekt, das sie irgendwann abzuschließen glaubte, so wie ein Modell, das sie nach akribischem Arbeitsaufwand für die Abgabe vorbereitete und dann auf einem Regal verstauben ließ. Eine Freundschaft auf Augenhöhe war das nicht und genau das machte mich so traurig und wütend. Ich fragte mich ständig, wann der Tag meiner Abgabe kommen würde. Wann würde sie mich nicht mehr haben wollen? Wenn sie mich für hoffnungslos erklären oder als Brautjungfer auf meiner eigenen Hochzeit die Blicke aller Gäste auf sich ziehen würde? Oder würde sie mich durch ein neues, vielversprechenderes Projekt ersetzen? Ich habe nie verstanden, warum sie sich mit mir angefreundet hat. War ich der Schandfleck, den sie mit sich herumschleppte, um im Kontrast mehr zu glänzen? Andererseits hatte sie das nicht nötig, denn sie glänzte auch ohne unbedeutende Nebendarstellerinnen. Wir lernten uns Ende des ersten Semesters im Architekturstudium kennen. Sie fiel mir schon am ersten Tag auf. Die schönen Klamotten saßen an ihr, als würde die Modewelt im Auftrag für sie arbeiten und sie strahlte so, als würde sich die ganze Welt um sie drehen. An jenem schicksalhaften Tag saßen wir beide mit unseren Laptops in der Bibliothek und schrieben an unseren Hausarbeiten. Camilla kam super voran und war nur in die Bibliothek gekommen, um ein paar Quellen abzugleichen. Ich hingegen musste auf den letzten Drücker abgeben und zu Hause war die Hölle los. Ich wollte ausziehen, wollte aber auch nicht arbeiten, um mir eine eigene Wohnung finanzieren zu können und meine letzten Dates waren schrecklich gelaufen. An diesem Tag kam so viel zusammen, dass mir alles zu viel wurde und ich begann, mein ganzes Leben zu hinterfragen, aber dass es durch irgendeine denkbare Entscheidung besser werden würde, war nicht in Aussicht. So saß ich in der Bibliothek, so nutzlos wie die Bücher, die ich mir aus den Regalen geholt hatte, denn ich war nicht in der Lage, ihren Inhalt aufzunehmen und brachte auch kein sinnvolles Wort für meine Hausarbeit zustande, bis ich irgendwann frustriert und verzweifelt den Laptop zuschlug und zu heulen begann. Da kam Camilla zu mir rüber und fragte, ob sie mir helfen könnte. Wir gingen in ein Café. Ich schüttete ihr mein Herz aus, woraufhin wir begannen, uns regelmäßig zu verabreden, bis daraus eine Freundschaft erwuchs. Zumindest oberflächlich war es so, denn der Neid zerfraß mich von innen. Gemeinsames Shoppen – Camilla stand die elegante Kleidung, ich musste notdürftig das kaufen, was gerade halbwegs passte. Camilla war bereits zuhause ausgezogen und wurde von ihrer Mutter finanziell unterstützt, ich musste meinen Eltern noch Geld zur Miete dazugeben. Camilla wurde beim Feiern von attraktiven Männern angesprochen, ich nicht und wenn, dann nur weil sie in Wahrheit an ihr interessiert waren. Doch es gelang mir trotzdem, neben Camilla zu wachsen. Aus dem moppeligen, schüchternen Mädchen mit dicker Brille und schlechter Haut wurde eine gepflegte junge Frau mit tief ausgeschnittenen Kleidern, Kontaktlinsen, einer schicken Föhnfrisur und einem strahlenden, vor dem Spiegel einstudierten Lächeln. Ich begann sogar, mich zu trauen, auf Menschen zuzugehen, aber das genügte mir nicht. Mein Traum war es, mit spätestens 25 Jahren Mann, Kind, Haus und Hund zu haben. Aber kein passender Mann war mir begegnet und so blieb ich auf der Strecke, während Camilla bereits mit Anfang 20 Marius heiratete und beruflichen Erfolg fand. Ich hingegen quälte mich in einem Großraumbüro ab, wo ich Mädchen für alles spielte. Doch dann tat sich eine Chance auf: Camilla hatte schon zuvor von ihren Eheproblemen erzählt und eines Tages regte sie sich darüber auf, dass Marius einen Dreier mit mir und ihr vorgeschlagen hatte. Ich konnte es nicht fassen – ein Mann, der Camilla hatte, wollte mich. Das zu hören, veränderte alles. Die Verbitterung, die jahrelang in mir gekocht hatte, sprudelte über und ließ mich alle Hemmungen verlieren, um endlich das zu tun, was ich immer gewollt hatte – Camilla schaden. Ich verführte Marius. Es war kinderleicht, als hätte er nur darauf gewartet. Ich kam vorbei, als Finn bei seinen Großeltern und Camilla auf der Arbeit war, setzte all meine Reize ein und zerrte ihn, ohne dass er Widerstand geleistet hätte, ins Schlafzimmer. Ich habe es mir von ihm genau auf Camillas Bettseite besorgen lassen. Danach trafen wir uns regelmäßig in meiner Wohnung, um miteinander zu schlafen. Als in Marius Schuldgefühle aufstiegen, erzählte ich ihm, dass Camilla ihm untreu gewesen war sowie dass er sich Finns Vaterschaft nicht sicher sein konnte. Erst wurde er wütend, aber nachdem er sich beruhigt hatte, beschloss er, das Spiel erst einmal so weiterzuspielen, mich immer weiter zu vögeln, um es Camilla eines Tages zu stecken, um sie maximal zu verletzen, die Ehe endlich so unerwartet und erschütternd zu beenden, dass es diesem untreuen Stück den Boden unter den Füßen wegreißen würde. Nach rund einem Jahr war dies heute letztlich geschehen. Ich finde es fast schon schade, dass das Versteckspiel nun ein Ende hat. Es hat mir einen Kick verpasst wie nichts anderes auf der Welt. Das Beste kam aber erst später, nachdem Camilla ausgerastet ist: Marius sagte, er wolle mit mir zusammen sein, Camilla abservieren, mit mir in ihrem Haus wohnen, immerhin würde mich Finn auch von ganzem Herzen lieben. Er ist ein unheimlich lieber Junge, der durch Camillas ständige Abwesenheit den Draht zu ihr verloren hat. Ich werde ihn mit Geschenken, Aufmerksamkeit und Ausflügen ködern, ihn zu meinem Sohn machen, während Camilla mit nichts zurückbleiben wird. Außerdem beginne ich, mich in Marius zu verlieben und will, dass er keine Probleme beim Streit um den Umgang mit Finn bekommt. Es ist also vonnöten, Camilla so zu diskreditieren, dass sie höchstens noch die Chance bekommt, Finn jedes zweite Wochenende zu sehen – oder am besten gar nicht. Sie soll aus unserer Vergangenheit getilgt werden, unserem Glück mit ihrer Gegenwart nicht im Weg stehen. Ich machte mir gerade Gedanken darüber, was ich dafür würde unternehmen müssen, als Marius telefonisch erfuhr, dass sich Camilla hat einweisen lassen. Sofort witterte ich eine Chance und hatte im selben Augenblick einen Plan. Eigentlich ist das, was ich vorhabe, eine Nummer zu groß. Es ist nicht das, was Camilla verdient, denn bei allem Neid war sie eine gute Freundin und sie ist eine liebevolle Mutter, aber es dürstet mich danach, sie am Boden zu sehen. Außerdem ist Marius, bei aller Liebe, schwach, also muss ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Marius war gerade zu Camillas Schwester gefahren, um dort ihre Sachen abzuladen. Dieses Zeitfenster wollte genutzt werden, also fuhr ich ins Krankenhaus. Camilla litt schon früher an Panikattacken. Seit ihrer Jugend war das kein Thema mehr gewesen, aber heute haben diese Angstzustände wieder eingesetzt. Es ist an der Zeit, sie zu unterfüttern. Eigentlich ist mein Plan zu einfach, um zu funktionieren, aber ich vertraue auf mein Glück. Wann sollte ich richtig Glück haben, wenn nicht heute? Ich stelle mich an der Anmeldung als Clara Gräf vor, die hoffentlich nicht auf dem Weg zu Camilla ist, aber sollte ich erwischt werden, würde ich angeben, ich sei hergekommen, um mich bei Camilla zu entschuldigen und dass ich von ihrem Zustand nichts wusste. Ich weiß dank Marius aber sehr wohl Bescheid – Camilla hat bei einer Panikattacke einen Krampfanfall erlitten. Der Verletzungsgefahr wegen wurde sie an ihr Bett fixiert. Damit ist sie völlig hilflos und zudem durch einen Medikamentencocktail benebelt. Mit anderen Worten: Es ist die perfekte Chance, um sie in den Wahnsinn zu treiben. Kapitel 63: Thomas, 2001 Es ist mir ein Rätsel, wie die Leute in Film und Fernsehen ihre Verfolgungsjagden so lässig bewältigen. Auf den leeren Straßen, die mich aus Bonn heraus und Richtung Niederrhein führen, befürchte ich mehrmals, Cornelia verloren zu haben, aber dann tauchen doch immer wieder die Rücklichter ihres Wagens vor mir auf. Ich spiele mit dem Gedanken, sie zu überholen und so zum Anhalten zu bringen, aber in der Dunkelheit würde ich damit vielmehr einen Unfall riskieren. Ihr zu folgen erscheint mir zwar mit jedem weiteren zurückgelegten Kilometer fragwürdiger und grenzüberschreitender, aber ich will das, was zwischen uns passiert ist, nicht so stehen lassen. Zwischendurch halte ich mich selbst mal für den größten Freak, mal denke ich mir, dass ich das Richtige tue, indem ich in Erfahrung bringe, wo ich sie finde, falls es heute zu keinem Gespräch mehr kommt. Doch angenommen, ich folge ihr bis zu ihrem Haus. Ich kann sie ja wohl schlecht vor ihrer Tür ansprechen, während ihr Mann und ihre Kinder vielleicht zuhause sind. Deshalb hoffe ich jedes Mal, wenn wir an einer Tankstelle vorbeifahren, dass sie dort anhält – vergeblich. Es geht über Feldwege, vorbei an Waldrändern und über denkbar schmale Landstraßen. Dann sehe ich, wie ihr Auto vor mir abbiegt. Als ich diesem mit großem Abstand folge, bemerke ich, dass die Straße etwa hundert Meter weiter endet. Am Ende der Straße steht ein Haus, welches links und rückseitig an ein Waldstück grenzt, rechts erstreckt sich ein Feld – nichts weiter. Dass ich das Haus in der Dunkelheit überhaupt erkennen kann, ist dem Mond geschuldet, der es in einen kalten Schleier hüllt. Zudem brennt Licht in einem der Fenster. Wie groß das Haus ist und wie weit es sich nach hinten hinaus erstreckt, kann ich von hier aus nicht einschätzen. Es wirkt so winzig klein und verloren zwischen dem Schwarz des Waldes sowie der Leere des Feldes, wie ein einsames Schiff auf stürmischer See. Statt dem Wagen zu folgen, bremse ich, schalte in den Rückwärtsgang und fahre zurück in die Kurve. Als ich aus der Sichtweite des Hauses verschwinde, manövriere ich das Auto von der Straße herunter zwischen ein paar Bäume. Die Äste knacken wie verrottendes Gebälk, aber zum Glück ist Lars‘ Auto schon so zerkratzt, dass er neue Lackschäden sicher nicht bemerken wird. Der Boden unter mir ist uneben und ich denke mit Sorge ans spätere Ausparken, aber einen besseren Abstellort werde ich jetzt sicher nicht finden. Der Zweifel, ob es eine gute Idee war, Cornelia nachzufahren, verlässt mich für keine Sekunde, sodass ich wiederholt mit dem Gedanken spiele, umzukehren, doch letztlich beschließe ich, mir das Haus wenigstens aus der Nähe anzusehen, da ich nun schon mal hier bin. Als ich aussteige, beschließe ich, mich dem Haus im Schutz der Bäume zu nähern. Wie kann man hier nur wohnen, so mitten im Nichts? Wenn jemand auf die Idee kommt, einen auszurauben, ist man ausgeliefert. Hat man hier überhaupt Internet- und Handyempfang? Ich schüttle den Kopf über meine Gedanken – weit vom Schuss ist nicht außer Reichweite der Zivilisation, auch wenn mir das Klischee einer auf dem Dachboden lebenden, dreiäugigen Frucht des Inzests angesichts dieser Szenerie nicht aus dem Kopf gehen will. Andererseits ist es der perfekte Ort für Misanthropen, denn hier hat man definitiv seine Ruhe, was diese Gegend neben der frischen Luft wiederum ansprechend macht. Nach kurzem Zögern nähere ich mich dem Haus und schleiche mich in den Garten. Und nun? Mit jedem Schritt, der mich dem Haus näherbringt, wird mir kälter, denn ich schwitze vor Stress aus allen Poren und mein Herz rast wie verrückt, während der kalte Nachtwind unter mein locker sitzendes Polohemd zieht. Das Fenster, in dem das Licht brennt, ist weit geöffnet und erlaubt einen Blick ins Haus, aber mit einem solchen würde ich umgekehrt riskieren, gesehen zu werden. Dennoch stelle ich mich daneben und schaue von der Seite aus vorsichtig hinein, doch mir eröffnet sich lediglich die Sicht auf einen Türrahmen am anderen Ende des Raums. In diesem sehe ich eine schmale Gestalt in einem üppigen Rock, die mit großer Sicherheit Cornelia sein wird. Sie huscht an der offenen Tür vorbei. Genau in diesem Moment sehe ich, wie sich dort ein großgewachsener Mann aufrichtet, sich wie ein Insekt entrollt. Von den Proportionen her könnte es der Mann von der Lesung sein. Vor Schreck presse ich meine Lider zusammen und drücke meinen Körper mit aller Kraft gegen die Hausfassade, halte sogar den Atem an, während ich fürchte, dass mein Herzschlag die Stille zerreißt. „Dachtest du, ich bekomme nicht mit, dass du weg warst?“, hallt eine raue Männerstimme aus dem Zimmer. Ich würde am liebsten auf der Stelle zurück zum Auto sprinten, wobei ich mir selbst nicht erklären kann, warum mir die Situation so eine Angst einjagt, will aber zugleich unbedingt hören, was sie sagen, denn ich will erfahren, ob es sich bei diesem Mann um Peter handelt. Und ich will kein Feigling sein! „Wo warst du?“, schießt er herrisch hinterher. „Hör schon auf“, höre ich Cornelia antworten. Was sie danach sagt, kann ich akustisch nicht verstehen, dafür aber glasklar die Entgegnung des Mannes: „Du mit deiner klugscheißerischen Art. Wann kommt endlich der Tag, an dem ich dir dein freches Maul herausgeprügelt bekomme?“ Was?! Ich hoffe doch, das ist ein schlechter Scherz, und nicht ihre Lebensrealität. „Mach, was du willst, nur mache es bitte schnell. Ich bin müde“, antwortet sie und so klingt sie auch. „Einen Scheiß werde ich. Du hast es noch nie zuvor gewagt, ohne mein Wissen über Nacht wegzubleiben.“ „Du hast ja auch noch nie zuvor damit gedroht, den Mädchen zu offenbaren, was für ein Monster du bist.“ „Zehn Jahre Ehe, Cornelia. Warum bekommst du es nicht endlich hin, eine gute Frau zu sein?“ „Warum bekommst du es nicht endlich hin, ein guter Mann zu sein?“ „Na, weil du mich mit deinem Verhalten zum Gegenteil zwingst.“ „Tut mir leid, dass es mir nicht gelingt, dich glücklich zu machen.“ Ende der Leseprobe
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Seiten: 564
ISBN: 9783985950409
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